Montag, 7. Juni 2010

Meistens pünktlich, luftig und manchmal viel Gedrängel



Madras. Wer wirklich einmal ganz alleine sein will in Madras, sollte einen S-Bahnhof an einem Sonntag besuchen. Doch an einem Werktag während der Rushhour macht das MRTS (Mass Rapid Transit System) seinem Namen alle Ehre und transportiert drängelnde Menschenmassen zum Arbeitsplatz und zurück.

Irgendwie zweifeln wir noch ob das wirklich funktioniert. S-Bahn fahren in Madras. An einem Sonntag machen wir eine Testfahrt. Der Bahnhof Mandaveli wirkt irgendwie unfertig und außer uns scheint niemand unterwegs zu sein. Oder doch. Da drüben laufen zwei Backpacker - keine Inder - die ratlos vor einer Informationstafel stehen bleiben. Immerhin sind die Stationen nicht in Tamilischer Schrift verzeichnet, aber die Namen klingen fremd, ganz anders, als auf dem MRTS-Plan, den wir auf Wikipedia gefunden haben. Zu unserem Erstaunen ist ein Schalter geöffnet und wir geben unser Ziel an: Light House, wie der Name schon sagt, ganz nahe am Meer und dort soll sich auch eines der modernen Einkaufzentren befinden.

Die Preise sind deutlich auf einer Tafel angezeigt. Erleichterung bei uns, wenigstens braucht man mit keinem Autorickshaw-Fahrer zu feilschen oder ihm den Weg erklären. Für 10 Rupien - noch nicht mal 20 Eurocent – bekommen wir zwei Fahrkarten, während die gleiche Strecke mit der Autorickshaw etwa das Zehnfache kostet. Die Fahrscheine sind aus dicker Pappe und wir fragen uns, ob der Schaffner auch mit einer Lochzange durch den Zug klappert, um die Karten zu entwerten. Irgendwie finden wir dann auch den richtigen Bahnsteig – nun, es gibt nur zwei – allerdings zweifeln wir jetzt erneut daran, dass hier sonntags ein Zug fährt. Gähnende Leere auch auf dem Bahnsteig. Selbst die Toiletten sind mit dicken Schlössern verriegelt.


Die S-Bahn in Madras gibt es seit 1997 – dann war die erste Bauphase beendet. 25 Kilometer misst die Strecke. Viele der Bahnhöfe sind unfertig geblieben, weil die Baufirmen pleite gegangen sind, kein Geld da war, oder einfach aus Nachlässigkeit - nach dem guten Indischen Motto, wenn irgendwas irgendwie funktioniert, dann muss man es nicht unbedingt fertigstellen.

Wir entdecken eine große, gut lesbare Holztafel mit einem übersichtlichen Fahrplan. Sonntags fährt der Zug alle zehn Minuten, an Werktagen alle fünf. Und tatsächlich, da kommt er auch schon. Wir begeben uns in die 2. Klasse (außerdem gibt es einen "First-Class and Ladies-Waggon"), wo fast nur Männer sitzen. Eine Familie mit einem Jungen, der angezogen ist wie ein kleiner Sultan, gesellt sich hinzu. Der Winzling macht große runde Augen und staunt über die komischen weißen Leute, die eine Bank weiter sitzen. Als sein Vater vom Sitz aufsteht und ihn allein lässt, flüchtet er sich panisch zu seiner Mutter. Nachdem er immer wieder zu uns hinschaut, bekommt er von seinem Vater, der sich wieder gesetzt hat, einen leichten Klaps. Nein, das gehört sich nicht, scheint er zu sagen. Aber natürlich verstehen wir nicht, wie er seinem Zögling auf Tamilisch die Leviten liest.

Passagiere rücken ganz eng zusammen

Mittlerweile ist der Zug doch ganz schön voll - nach westlichen Gefühl zumindest. Ein junger Fahrgast, der gerade eingestiegen ist, entdeckt seinen Freund, der neben uns sitzt. Die beiden haben keine Probleme, sich nebeneinander auf die Bank zu quetschen und finden, dass auch wir ungefragt zusammenrücken müssen.

In Indien ist das eben so. Ich denke daran, dass ich 1989 mit dem Zug durch ganz Indien gefahren bin - Holzklasse. Wir waren 18! Menschen in einem Abteil. Einige der Fahrgäste saßen auf den Schoß ihrer Mitfahrer, andere waren in die Gepäcknetze über unseren Köpfen geklettert. Die Gänge waren so voll, dass noch nicht mal dran zu denken war, auf die Toilette zu gelangen. Außerdem hätte man die Klotür sowieso nicht öffnen können. Koffer und Menschen versperrten selbst das. Also möglichst nicht trinken. Da ist die Fahrt mit der Chennaier S-Bahn geradezu entspannend. Jedenfalls geht ein relativ frischer Luftzug, da die Fenster nicht verglast sind.

Drängeln was das Zeug hält

An Bahnhof Light House steigen auffällig viele junge Männer und Frauen in moderner Kleidung - Jeans und T-Shirt - aus. Wir haben richtig geraten: Ihr Ziel ist das Einkaufszentrum City Center mit seinem Kaufhaus Lifestyle. Wir gehen einfach der Menge nach und da liegt der Shopping-Palast. Wenn auch nicht der größte, so immerhin einer der modernsten in  der Stadt.
Dort gibt es alles, was es in einem Karstadt oder Kaufhof auch gibt, na ja, fast alles. Schnell hoch ins Café à la Starbucks und einen Schokobrownie gegessen, dann geht es wieder zurück ins "richtige" Indien, wo gleich um die Ecke des Shopping-Paradieses für den Mittelstand ein ganz anderes Einkaufsgefühl herrscht. Hier reihen sich kleine Läden mit Fahrradreifen, Essgeschirr oder Werkzeugen aneinander. Wir laufen zu Fuß zur nächsten S-Bahnstation und steigen wieder ein.

Am Bahnhof Chennai Central angekommen, wechseln wir zu den Commuter Zügen, die bis zu 80 Kilometer aus Madras herausführen. Am Hauptbahnhof von Madras sammelt sich alles was von außerhalb kommt und was aus der Stadt heraus möchte. Hier bekomme wir einen Vorgeschmack davon, wie es ist, wenn 50 Menschen gleichzeitig versuchen, in einen Waggon zu steigen und das, während die gleiche Menge versucht, auszusteigen. Drängeln ist in Indien ganz normal. Sobald sich eine Lücke auftut, heißt es, rein da, sonst ist man am Ende der Verlierer.

Geschafft. Wir starten zur letzten Etappe. Der Test war erfolgreich. Zumindest am Wochenende werden wir es wieder versuchen.

Text: Senya Müller, Fotos: Senya Müller (2), Wikipedia